DAS VERSÄUMNIS
Ich hatte im Leben fast alles hinbekommen, einen gut besoldeten A 14-Job, einen
überdurchschnittliche liebe Frau, 2 weniger liebe Kinder mit Potential nach oben, 1 Dackel, eine Reihenhaushälfte,
selbst den Baum hatte ich gepflanzt. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass
irgendwas fehlt. Etwas, das ich nicht greifen und scheinbar nicht beeinflussen
konnte, schon weil ich schlicht nicht
wußte, was es ist.
Dann klopfte es eines Morgens um 2 Uhr früh an meine
Haustüre, vielmehr hämmerte irgendwas hartes, schweres dumpf dagegen und
brachte sie zum Bersten. Im Schlafanzug huschte ich zum nunmehr luftigen
Eingang. Dort standen schwer bewaffnete Soldaten in verschiedenen Uniformen,
über den Häusern schmetterten Hubschrauberrotoren, die Nacht war mit grellem
Licht erleuchtet, dessen Quelle ich nicht orten konnte.
Ich versuchte, die Soldaten anzusprechen, doch sie
achteten gar nicht auf mich, weil sie ununterbrochen in ihre Walky Talkies
schrien und voll damit beschäftigt waren, das Haus mit Barrikaden abzusperren.
Irgendwann packten sie mich aber doch am Arm und zerrten mich in einen
Mannschaftswagen.
Vier mäßig attraktive Offiziere musterten mich
eindringlich, und endlich fragte mich einer auf englisch, ob ich meine
"KANSTITJUSCHEN" dabei habe. Ich wußte nicht, was er meint und hob
verwirrt die Arme. "FÖR-FÄSS-UNG!!" brüllte er mich in erbrochenem
Deutsch an und trommelte dazu mit den
Fingerknöcheln auf den Tisch. In meinem bescheidenen Schulenglisch hob ich an,
ihm zu erklären, dass ich mich angesichts der Umstände nicht in bester
Förfässung befände, was doch irgendwie und sowieso und durchaus verständlich
sei, aber an seinem puterrot angelaufenen Gesicht konnte ich ablesen, dass ihn
das im Augenblick und vermutlich bis ans Ende seiner Tage nicht interessieren
würde.
Doch dann bellte ein anderer Offizier in einer kackbraunen Uniform
"FRRI-DEN-VERR-TRRRAG, TOWARISCH!! WO SEIN FRI-DEN-VERR-TRRRACKT???"
und plötzlich durchzuckte es mich und ich wußte plötzlich, was mein ganzes
Leben überschattet und den Fortschritt zu A 15 gebremst hatte. Etwas, worum ich
mich all die Jahre nicht gekümmert hatte, und auch nicht dem Bürgermeister oder
dem zuständigen Sachbearbeiter deswegen Feuer unterm Arsch gemacht hatte: Dass
die sich endlich um den Scheiß FRIEDENSVERTRAG kümmern und das poplige
bananenrepublikanische Grundgesetz durch eine vollwertige VERFASSUNG umtauschen
sollen. Immer war was dazwischen gekommen, immer schnell eine billige Ausrede
gefunden: Studium, Balz, Kinder, Karriere ... man kennt das ja. Nur für die
wirklich wichtigen Dinge im Leben hat man nie Zeit. Das Menschsein, die
Verfassung und den Friedensvertrag.
Der Rest ist schnell erzählt, meine Familie und ich und die ganze Siedlung
wurden in ein Umerziehungslager bei Krasnojarsk ausgeflogen, die
Reihenhaussiedlung geschleift, der Dackel gepfählt.
Hätten wir doch auf Erwin Gottenströhter aus der
Siedlung gehört, der uns schon seit Jahren genau dieses Szenario vorhergesagt
hatte. Als einziger Anwohner hatte er seine Reihenhaushälfte befestigt und
eingefriedet, im Garten die Fahne des Deutschen Reiches gehisst und mit einem
Gratis-Bildbearbeitungsprogramm aus der Computer-BILD hunderte bunte Dokumente,
Verfassungen, bi-, tri- und multilaterale Friedensverträge erstellt, aufwendig mit beeindruckenden Wachssiegeln paraphiert,
die in vielen Sprachen davon kündeten, dass er - Erwin Gottenströhter - auf dem Boden eines souveränen Staates
lebt. Seines eigenen. Mit ihm als Souverän. Ihm konnte also keiner der
Alliierten was in seiner Reichskanzlei im Keller vom Ahornweg 7 anhaben (seine
Frau hatte ihm die oberirdische Ausführung der Regierungsgeschäfte im
Wohnzimmer untersagt - wie auch dem
vierköpfigen Kabinett, das aus Erwins Kegelbrüdern bestand, den Zutritt zum
Anwesen.)
Sein selbstzufriedenes Grinsen war das letzte was ich
sah, bevor ich schweißgebadet aus dem Alptraum erwachte und erleichtert in die
Augen des Dackels (er heißt "Treuer Heinrich" und ist der Souverän im
Ahornweg 9 ) blickte....ja, der Erwin...ich hätte auf ihn hören sollen...
Guten Tag...und ein schönes Wochenende